Bei Vorstellungsgesprächen den Gesundheitszustand anzusprechen, ist ja nur begrenzt zulässig. Kann der*die Bewerber*in zum Beispiel nur mit Gehhilfe laufen, darf nach der Ursache dieser Beeinträchtigung gefragt werden und danach, wie sie sich auf den Alltag in der Kita auswirken wird. Akut oder chronisch? Das lässt sich aber manchmal noch gar nicht abschätzen. Auch die Prognose ist oft ein Stochern im Nebel. Und die meisten Krankheiten sieht man den Menschen nicht an: Weil sie noch ganz am Anfang sind, in einer ruhigen, nicht quälenden Phase oder weil die Medikamente und anderen Therapien einfach wirken.
Sind wir nicht alle irgendwann chronisch krank?
Sinnvoll ist also, zu akzeptieren, dass jede*r Bewerber*in prinzipiell chronisch krank sein oder es werden könnte – und sich darauf vorzubereiten. Denn, provokant gefragt: Was soll schon schiefgehen? Die Fachkraft könnte längere Zeit ausfallen. Nun, das kann die Kollegin mit Kinderwunsch, der fußballverrückte Jahrespraktikant oder der Marathon-Man bzw. die Marathon-Woman im Team ebenfalls. Und Sie selbst ebenso. Ein Unfall, eine akute und eine chronische Krankheit kann uns allen jederzeit passieren. Statistisch gesehen, werden die meisten von uns irgendwann chronisch krank, wenn wir nur das entsprechende Alter erreichen. Diabetes mellitus, Arthrose, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Depressionen … rechnet man allein die Menschen zusammen, die irgendwann in ihrem Leben mindestens einmal „Hier!“ schreien, sind es weitaus mehr als die Hälfte. Wieso also so eine Scheu davor, mit Betroffenen zusammenzuarbeiten?
Von Ängsten und Unkenntnissen
Früher bedeutete die Diagnose rheumatische Arthritis, Multiple Sklerose, Diabetes mellitus oder auch wiederkehrende Depressionen oft automatisch die Frühberentung. Wer „so etwas“ hatte, sollte sich schonen. Es waren junge, ehrgeizige Patient*innen, die sich dagegen wehrten. Die sagten: „Ich kann arbeiten, und ich will arbeiten, denn mein Beruf erfüllt mich und hält mich gesünder als das Zuhausesitzen. Und ich kann – wenn ich nicht gerade einen heftigen Schub habe und eine Pause brauche – produktiv sein. Ich kann und will Dinge bewegen, der Gesellschaft und den Menschen etwas geben.“
Selbsthilfeorganisationen und Verbände bewegten eine Menge für Betroffene. Die Wirtschaft bewegte sich langsamer, viele Unternehmer*innen sahen chronische Erkrankungen erst mal als unkalkulierbares Risiko. Die eigene Angst davor, selbst irgendwann schwer oder chronisch zu erkranken, spielte sicher mit hinein. Und die Tradition in unserer Gesellschaft, nicht „darüber“ zu sprechen. Krankheit gab es nur im Privaten – beruflich setzte man Masken auf und funktionierte. Oder war eben Hausfrau/Hausmann oder in Rente.
Die Dinge ändern sich!
Doch hier hatten Fachkräftemangel und Homeoffice-Zwang für viele über Monate endlich mal gute Folgen: Unternehmen öffnen sich. Und kluge, erfolgreiche Menschen öffnen sich. Viele Menschen mit Vorbildfunktion bekennen öffentlich: „Ich habe eine chronische Krankheit. Aber ich bin trotzdem gut in dem, was ich tue. Und wenn ihr krank seid oder werdet, könnt ihr es auch sein!“
Von Kolleg*innen mit chronischen Erkrankungen können wir alle viel lernen:
- Erstens: Das Leben geht weiter. Nach und mit der Diagnose, mit Medikamenten, Physio-, Psycho- und anderen Therapien. Und manchmal muss man eine Weile kämpfen, bis die richtigen Ärzt*innen und Behandlungswege gefunden sind.
- Zweitens: Improvisieren und Delegieren sind wichtig. Wenn bestimmte Bewegungsabläufe zu sehr schmerzen, gehen vielleicht andere besser. Oder man bittet um Hilfe. Wenn man nach 40-Stunden-Wochen nicht mehr schlafen kann, muss die Arbeitszeit eben verkürzt werden. Oder zuhause eine Haushaltshilfe engagiert. Jede*r ist anders belastbar.
- Drittens: Nein zu Überforderung sagen, Ja zu sich selbst. Viele lernen das erst nach dem Zusammenbruch, der ihrer Diagnose vorausging. Sie wissen nach dieser Erfahrung, wo sie nie wieder hinmöchten. Und wollen oft auch andere davor schützen, bis zum Kollaps die eigenen körperlichen und seelischen Kräfte auszureizen.
- Viertens: Wir sind alle, alle wertvoll. Dick oder dünn, krumm oder gerade, wackelig auf den Beinen oder mit Hörgerät, in starken wie in schwachen Tagen.
Natürlich muss in eurer Kita dafür gesorgt sein, dass immer jemand einspringen kann, wenn eine andere Person länger ausfällt. Und ihr könnt euer Haus so barrierefrei und gesundheitsförderlich einrichten, wie es eben geht. Mit Rückzugsräumen, Gelegenheit zum Mittagsschlaf, flexiblen Teilzeitmodellen lässt sich auch viel dafür tun, dass alle gut bei Kräften bleiben. Das muss natürlich jemand bezahlen, und hier wären wir bei Gesellschaft und Politik – es gibt noch viel zu tun.
Aber das ändert nichts daran, dass liebevolle, gut ausgebildete Menschen mit chronischen Erkrankungen für jedes Team eine Bereicherung sind. Und die Kleinen lernen so von Anfang an: „Niemand muss immer funktionieren und alles können. Wer fällt, wir gehalten, wer sich schwach fühlt, aufgebaut.“ Das zu verinnerlichen, finde ich ziemlich gesund.